Cilento_Tyrrhenisches Meer

Cilento: Slow Travelling in den Süden

Manche sagen, es sei noch ein Stück ursprüngliches Italien. Ich sage: Griechenland auf Italienisch. Kein Wunder, liegt das Cilento doch im Herzen der Magna Graecia, dem schon vor fast 3000 Jahren von Griechen besiedelten Gebiet. Für mich ist es die Vermählung aus allem, was mir lieb ist.

Eine Reise in den Süden Europas lässt sich unterschiedlich anlegen: mit dem Auto, mit dem Flugzeug – oder mit dem Zug! Ich habe Letzteres gewählt, um mich bis in den Südzipfel der Region Kampanien, an die Grenze zu Kalabrien, fortzubewegen.

Ausgangspunkt ist meine Zweitheimat Palmanova in Friaul-Julisch Venetien. Wir, also mein Friulaner und ich, hatten es uns zum Ziel gemacht, komplett ohne Auto an- und zurückzureisen. Die Sternstadt, an der Bahnstrecke zwischen Tarvis und Triest gelegen, verfügt über einen kleinen Bahnhof, der meist von Pendlern genützt wird. Im Sommer auch gerne von Radreisenden, die den überregionalen Micotra-Zug nützen. Besonders viele Reisende mit Fernziel sind hier also nicht unterwegs. Nur wir, mit unseren großen Koffern.

Ab in den Frecciarossa

Mit Umsteigen gelangt man von Palmanova nach Venedig bzw. Mestre, wo wir dann den Hochgeschwindigkeitszug Frecciarossa 1000 Venezia–Napoli nehmen. Bei der Anreise haben wir jedoch eine Zwischenetappe: Florenz. Ein emotionaler Anlass für mich, denn ich habe 40 Jahre Italien-Liebe zu feiern. In meiner Schulzeit verbrachte ich den Sommer genau dort – um zum ersten Mal länger die Sprache zu studieren. Sie und das Faszinosum von Land, Kultur und Menschen wurden zu einem wesentlichen Lebensinhalt.

La mia Firenze

Die Stadt ist längst eine andere geworden, die absolute Eleganza einem gewissen Disneyland-Flair gewichen – Florentiner selbst kann man im Centro Storico lange suchen. Das Phänomen Overtourism schlägt auch hier zu. Nur der Arno, der hat an Reiz nichts verloren – er durchfließt die Stadt unbeeindruckt von allen Selfie-Queens und Regenschirm-Gruppen und bietet zu jeder Tageszeit romantische Anblicke und Grund zum Feiern oder Innehalten.

Kulinarisch hat Florenz einiges zu bieten, typische Osterie gibt es in Hülle und Fülle. Ribollita, Pappa al pomodoro, Lampredotto und Peposo: Diese Vokabel aus der eher deftigen, aber umso schmackhafteren cucina casalinga sollte man sich gut merken, wenn man authentische italienische Küche liebt.

Ab in den Süden

Wir jedenfalls haben keine Bucket-List, sondern nach ein paar Tagen genussvollem Aufenthalt ein weiteres Ziel und reisen daher weiter: sanft und slow. Obwohl, mit bis zu 300 Kilometern pro Stunde auf dem Weg nach Neapel ist von langsam keine Spur. Der Blick auf die Anzeigetafel über den Köpfen der Passagiere sorgt für ein belebendes Gefühl. Der Zug ist gut gebucht, freie Plätze sind selten. Das Gepäck wird zum Großteil über Kopf verstaut. Da braucht es schon einen starken Mann oder vereinte Kräfte, um das Gewicht zu stemmen.

Ab und zu tauchen in mir bestimmte Fragen auf, ich habe schließlich Zeit, nachzudenken: Ist es nun anstrengender oder entspannender, ist es sinnvoll oder vielleicht doch zu alternativ, eine solch weite Reise mit dem Zug …? Aber dann rechne ich nach: Es sind jeweils ein paar Minuten, in denen es für mich „herausfordernder“ wird, vor allem beim Ein- oder Aussteigen, wenn der Koffer vielleicht über einige Stufen und Stiegen zu tragen ist. Der Rest sind viele Stunden Entspannung. Lesen, essen, trinken, reden, Musik hören. Aus dem Fenster schauen!

An der Tyrrhenischen Küste

Das letzte Stück Fahrt bis in den kleinen Ferienort an der Küste des Tyrrhenischen Meeres findet dann per „Intercity“ statt. Ein Regionalzug, der in ziemlich vielen Bahnhöfen hält. Doch irgendwann sind wir dann dort – um dort zu bleiben. Die erste Frage nach unserer Ankunft – „Wo wollt ihr denn hin ohne Auto?“ – verstehe ich nicht ganz. Wieso sollen wir schon wieder wegwollen?

Der Palazzo, in dem sich unsere Unterkunft befindet, stammt aus dem 16. Jahrhundert und trägt den Namen des heutigen Besitzers. Ein deutlicher Hinweis auf eine lange Familiengeschichte. Mit Sicherheit aber ist es das außergewöhnlichste Bauwerk an der Hauptstraße des Orts. Efeuumranktes Sichtmauerwerk und eine Terrasse mit spektakulärem Ausblick aufs Meer darunter. Rund um die Uhr nur für uns reserviert.

Mehrere Badestrände befinden sich praktischerweise in Fußreichweite, weite Sandbuchten mit und ohne attrezzatura, also Liegen und Sonnenschirme. Das Wasser, so wie ich es liebe, klar und in allen Türkistönen leuchtend.

Kurvig und geschichtsträchtig

Für gezielte Ausflüge in die Umgebung beschließen wir, für zwei Tage ein Auto zu mieten. Die Entfernungen sind nicht weit, die Straßen – ähnlich wie oft in Griechenland – schlängeln sich schmal und kurvig durch die Landschaft. Einerseits sind es historische Plätze, die uns staunen lassen. Etwa die lebhafte kleine Hafenstadt Agropoli oder die Ausgrabungsstätte Paestum, imposantes Zeugnis griechischer Baukunst vor beinahe 3000 Jahren.

Andererseits staune ich beim Wandern im Parco Nazionale del Cilento und zücke immer wieder meine App zur Pflanzenbestimmung: Flaumeiche, Steinlinde, Mastix und Myrte machen mich neugierig. Die Wälder tragen weißgelbe zartgefiederte Kronen: jene der Edelkastanien, die gerade in Blüte stehen. Da und dort hebt sich blaugrünes, kräftiges Blattwerk ab – Eukalyptusbäume. Der Honig daraus, den wir später beim Agriturismo kaufen, schmeckt sensationell gut. Es gibt auch Kastanien- und Orangenhonig. Ach, ist das nicht paradiesisch?

Farbenpracht für Auge und Gaumen

In den Gärten hängen die Zitronen büschelweise an den Bäumen – Stückzahl ist für sie ein Fremdwort. Viele der imposanten Exemplare sind bereits zu Boden gefallen und bewegen sich in Richtung Zerfall … uns Nordländern blutet das Herz bei dem Anblick. Vielleicht kümmern uns daheim auch keine Äpfel auf der Wiese?

In der warmen Luft liegt der Geruch nach Feigenbäumen, die Früchte darauf sind zahlreich, aber noch nicht reif. Die Olivenbäume auffällig hoch, nie zuvor habe ich derart mächtige Gewächse in Olivenhainen gesehen. Die Blüten selbst vor den einfachsten Häusern sind so üppig, dass man in das Farbmeer am liebsten eintauchen möchte: Bougainvillea, Oleander, Hortensien, Pelargonien und Dipladenien prägen das Bild in den Dörfern, deren Häuser in auffällig schlichtem Ocker gehalten sind. Die Architektur drängt sich nicht auf, sticht nicht aus der Landschaft. Hier darf die Natur dominieren.

Vielfalt auf dem Teller

Auf den Tellern lockt ebenso Ungewöhnliches: Myrte besticht auf der mozzarella schiacciata, einer Art zusammengedrückten Büffelmozzarella. Überhaupt lohnt es sich, bei einer Käserei haltzumachen, denn wo sonst kann man so umfassend und authentisch eine Vielzahl von Büffelkäsen verkosten?! Ein Stück Schlaraffenland für Feinschmecker. Auf Nachhaltigkeit wird Wert gelegt, die Zukunftsorientiertheit vonseiten der Produzenten ist sicht- und spürbar.

Die Speisekarte des Cilento ist vielfältig – von Wildschwein und Kaninchen geht es fließend über zu Knurrhahn (coccio) – Achtung, ein wohlschmeckender Fisch –, roten Riesengarnelen, gefülltem Tintenfisch (totano) und der typischen Vielfalt an Gemüse, das die mediterrane Küche auszeichnet. Dazu schmecken autochthone Weißweine wie Fiano und Falanghina sowie der rote Aglianico.

Abschied in der Bahnhofsbar

Auch wenn wir gerade dabei sind, uns in die Herrlichkeiten dieser terra vollends zu verlieben, nähert sich unsere Slow-Travelling-Heimreise langsam, aber sicher. Nach zwei Wochen und mit über 120 marschierten Kilometern in den Beinen, begeben wir uns zum Bahnhof, wo es noch eine echte Bahnhofsbar gibt. Wir starten frühmorgens im kleinen verschlafenen Ort am tiefblauen Thyrrhenischen Meer, um die Reise nachmittags in der Lagune von Venedig und wieder etwas später zu Hause, an den Toren der venezianischen Festungsstadt Palmanova, zu beenden. Müde, aber glücklich, nach der Vermessung der italienischen Welt.

PS

Wenige Meter vor unserem Zuhause herrscht plötzlich Aufregung, Rufe von der anderen Straßenseite. Ehi, ciao, tutto bene?! Nachbarn, die dort in der Osteria auf einen Aperitivo sind, haben uns erspäht. Sie laufen herüber, die Worte überschlagen sich vor erleichterter Freude. Die Autos waren so lange vor dem Haus gestanden, nur wir waren nicht zu sehen. Man habe sich Sorgen gemacht. Tja, so kann es gehen, wenn man „anders“ reist. Und das Glas Friulano, gut gekühlt, schmeckt uns allen jetzt umso mehr.

Meine persönlichen Tipps zum Cilento

Genuss im Cilento

Der Nationalpark Cilento umfasst ein weiträumiges Gebiet zwischen Tyrrhenischem Meer und Apennin-Gebirgszug. Besonders reich an Geschichte, Kultur und Natur, gehört es auch zum Unesco-Welterbe.

Im Sinne des Nachhaltigkeitsgedankens beim „Slow Travelling“ verzichte ich darauf, explizit kleine Orte zu nennen. Hingegen empfehle ich, sich auch ohne präzise Planung auf das Abenteuer Urlaub einzulassen. Mit den Einheimischen zu sprechen und sich ihre Tipps zu holen. Bäuerliche Produzenten, etwa von Wein, Olivenöl, Käse, Obst und Gemüse, zu entdecken. Von einem zentralen Standort aus lassen sich viele Ziele zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln einfach erreichen. Buon viaggio!


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